Keine sozialen Interaktionen, Besuchsverbot im Pflegeheim, selbst manche Paare gehen auf Abstand zueinander: Krankheiten wie Corona verändern den gesellschaftlichen Umgang. Und sie schaffen Unsicherheit. Warum Berührungen wichtig aber Verschwörungstheorien wenig achtsam sind.

Der Umgang mit Corona hält uns den Spiegel vor. Die Reaktionen sind vielfältig, oft nachvollziehbar, muten aber dennoch teils skurril an:

  • Ein italienisches Ehepaar erzählt in den Medien, dass es sich aus Sorge vor Ansteckung nicht mehr küsst und in getrennten Zimmern schläft.
  • Dating-Portale geben ihren NutzerInnen Tipps, wie man sich korrekt die Hände wäscht. Und wie man das erste Treffen möglichst risikoarm übersteht.
  • Bordellbetreiber berichten, dass sie bei ihren Kunden vermehrt darauf achten, ob sie eine „laufende Nase“ haben. Um sie notfalls abzuweisen. „Desinfektionsmittel haben wir ja eh schon immer zur Genüge da“, wird einer von ihnen zitiert – die Hilflosigkeit hat viele Gesichter.

Man fragt sich, wie wir wohl erst mit einer Epidemie umgehen würden, die noch deutlich schlimmer ist? Und wie sich Corona & Co. dauerhaft auf unser gesellschaftliches Miteinander auswirken?

Nähe auf Distanz

Ich war noch ein Kind, als Aids aufkam. Die Krankheit hat sich dennoch tief in mein Unterbewusstsein gegraben. Etwa durch die tiefe Betroffenheit rund um die Erkrankung von Freddie Mercury. Meine und die nachfolgenden Generationen können Sexualität längst nicht mehr so unbekümmert ausleben, als es nach der sexuellen Befreiung der 68er-Bewegung der Fall war. Natürlich kann man HIV und Corona nicht miteinander vergleichen. Und doch verändern beide unseren Blick auf körperliche Nähe.

Jegliche Angst steht dem Hinspüren und dem „sich fallenlassen“ diametral entgegen. Nun mag man entgegnen, dass die aktuelle Anspannung wieder vorbeigeht, sobald sich die Lage beruhigt. Doch ich glaube nicht, dass die kursierende Angst nur kurzfristiger Natur ist. Mit jeder ähnlichen Krankheit, mit jeder neuen Welle verankert sich die Unsicherheit ein wenig tiefer in unseren Köpfen. Sagrotan dürfte zu den Gewinnern zählen, unbekümmerte Nähe und Körperlichkeit haben es da schon schwerer. Eine Herausforderung und eine Mission für alle Menschen, die Berührungen zu ihrer Berufung gemacht haben.

Bewusste Begegnungen

Vielleicht hat die durch Corona ausgelöste Unruhe auch einen positiven Effekt – wenn man das überhaupt so nennen kann. Sie schult unsere Achtsamkeit. Denn es gibt durchaus gute Nachrichten und kleine Lichtblicke in diesen Tagen:

  • In manchen Wohnanlagen schließen sich jüngere Menschen zusammen, um für ältere und immungeschwächte Nachbarn einzukaufen.
  • Die Kassiererin beim Bäcker wünscht der sichtbar verschnupften Kundin mit einem Lächeln „gute Besserung“, statt gleich panisch oder vorwurfsvoll zu werden.
  • Wir unterscheiden sehr fein, dass der Besuch bei den Eltern oder Großeltern momentan leider keine gute Idee ist, während wir uns andere Treffen nicht nehmen lassen.
  • In manchen Supermärkten stapeln sich Lebensmittelspenden für Bedürftige, da die Tafeln durch die Epidemie weniger Essen zur Verfügung haben.

Wenn die Krankheitswelle nachlässt, dann gehen wir hoffentlich nicht sofort zum Alltag über. Der Nachholbedarf an Begegnungen führt vielleicht dazu, dass wir diese wieder bewusster angehen: In Gesprächen, Gesten, Berührungen, Freundschaften und in der bewussten Sexualität.

Was uns nicht weiterbringt ist, den schwarzen Peter weiterzuschieben. Dazu gehört auch das Bashing von Politik, Behören und ähnlichen Institutionen. Ich persönlich glaube nicht, dass es sich die Verantwortlichen dort leicht machen. Auch der Vergleich von Corona mit der jährlichen Grippewelle hinkt stark.

Es geht weniger um die konkrete Gefahr des Virus für jene, die keiner Riskogruppe angehören. Sondern darum, dass unser Gesundheitssystem kollabieren würde, wenn sich die Krankheit zu schnell und unkontrolliert ausbreitet. Dann müssten Ärzte entscheiden, welches Leben denn nun gerade wertvoller ist. Und dann hätten wir eine Panik, die tatsächlich fatal wäre. Von daher habe ich Verständnis dafür, wenn Konzerte abgesagt oder Pflegeheime vorübergehend zur Sperrzone erklärt werden. So unangenehm das im Einzelfall auch sein mag.

Neuer Zugang zu Berührungen

Der unreflektierte Unmut über „die da oben“ ist die eine Seite. Noch schlimmer sind Verschwörungstheorien sowie unseriöse Heilversprechen, wie sie leider auch in Teilen der spirituellen Szene kursieren. Derlei krude Ideologien, die rein auf Mutmaßungen oder Vorurteilen basieren, sind das Gegenteil von Achtsamkeit.

Nicht nur, dass sie inhaltlich gefährlich sind. Mehr noch verhöhnen sie immer auch die Opfer einer Krise. Ebenso deren Angehörige. Oder jene, die in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen ihre Gesundheit riskieren – für uns alle. Eines zeigt Corona ganz gewiss: Wie gut es uns geht, wenn wir überhaupt einen Zugang zu Berührungen haben. Und wie sehr wir die Zeiten genießen sollten, in denen Nähe und Zuneigung uneingeschränkt möglich sind.

Wie denkst du darüber? Wie schaffst du es, zwischen gesunder Vorsicht und notwendiger Berührung zu unterscheiden? Nutze einfach die Kommentarfunktion am Ende des Beitrags – auch anonym.

Bilder: Corey Agopian, Annie Spratt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert