Viele Männer und Frauen klagen über Orgasmusstörungen. Du kommst zu kurz, zu früh, zu selten, zu wenig spektakulär oder überhaupt nicht? Im Tantra gibt es mehrere Wege, damit umzugehen. Über ein Phänomen, das zahlreiche Menschen betrifft – obwohl nur sehr selten darüber gesprochen wird. Und darüber, wie aus Sekunden Stunden werden können.
Hast du deine beste Freundin oder deinen besten Kumpel schon einmal gefragt, wie es um ihren bzw. seinen Orgasmus steht?
- Wie empfindet er oder sie den Höhepunkt?
- Wodurch erreicht man ihn am besten? Beim Sex und/oder alleine?
- Kommen Mann und Frau nur noch mit Hilfsmitteln oder Pornos?
- Verändert sich das Empfinden im Lauf der Jahre?
- Gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen und Varianten des „petite mort“, wie man den Höhepunkt in Frankreich so schön nennt?
Du hast noch nie darüber geredet? Warum nicht? Schließlich verbringen wir in der Regel sehr viel Zeit damit, diesen Zustand zu erreichen. Und ihn auszudehnen.
Erwartung und Enttäuschung
Wenn ich mit Männern und Frauen über den Orgasmus spreche, dann höre ich sehr oft die Aussage:
„Ich habe ein Bild im Kopf, wie sich der sexuelle Höhepunkt anfühlen sollte.“
Und nur selten wird dieses Bild erfüllt – das kann bis hin zur sexuellen Funktionsstörung gehen. Oder das Hochgefühl ist viel zu schnell wieder weg. Das Problem dabei: Wir beziehen die Vorstellung, wie ein Orgasmus gefälligst auszusehen hat, aus unserer Fantasie. Oder – noch viel schlimmer – aus Pornos.
Der gespielte Orgasmus dort ist laut, wild, ekstatisch, mehrfach und nimmt scheinbar kein Ende, wenn es um die Frauen geht. Die Männer im Film oder im Internet halten ewig durch, um sich anschießend möglichst brünftig zu entladen. Danach starten sie sogleich eine neue Runde.
Diese Entladung – die Ejakulation – gehört beim Mann unbedingt mit dazu. Sonst ist es kein echter Orgasmus. Dieses Bild hatte ich über Jahre und gar Jahrzehnte verinnerlicht. Bis Tantra kam. Aber dazu gleich mehr. Frauen werden von ähnlichen Vorgaben geplagt. Es muss doch schneller und häufiger und intensiver „klappen“, schließlich ist es bei anderen Frauen doch auch so. Das wissen sie, ohne sich jemals darüber ausgetauscht zu haben.
Die Erwartungen an den Orgasmus sind also hoch. Vor allem sind sie festgefahren. Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn genau diese Erwartungshaltung kein Happy End erfährt. Oder wenn aus dem Orgasmus ein Orgas-Muss wird. Bei mir war es genauso. Ich war schon immer ein sehr sexueller Mann. Bis etwa Mitte 30 wollte ich den Höhepunkt – damals gleichbedeutend mit der Ejakulation – möglichst oft. Noch nie möglichst schnell. Und trotzdem nahm ich das Vorspiel nicht wirklich wahr. Ich konzentrierte mich alleine auf die paar Sekunden der Entladung. Egal ob ich mit meiner Partnerin intim war oder ob ich Solo-Sex hatte.
Heute wundere ich mich nicht mehr, dass sehr oft ein schales Gefühl folgte. Begleitet von dem Wunsch, möglichst schnell erneut zu „kommen“, um dieses Gefühl zu kompensieren. Bei vielen Männern aber auch Frauen endet dieses antrainierte Verhalten in der Sexsucht. Oder in der kompletten Enthaltsamkeit.
Orgasmus und Selbstliebe
Ich hatte großes Glück. Eines Abends erlebte ich etwas, das mir völlig unbekannt war. Damals experimentierte ich in der Selbstliebe viel damit, kurz vor der Ejakulation innezuhalten und durchzuatmen. Um mich danach erneut zu stimulieren. Es war im Rückblick der Beginn davon, den Weg mindestens ebenso achtsam wahrzunehmen, wie das Ziel. Plötzlich passierte es: Ich erlebte einen sehr intensiven Orgasmus. Doch ich war verwirrt. Es gab keinerlei Spuren einer Ejakulation. Irgendwie gelang es mir, diese Erfahrung zu wiederholen. Von da an lebte ich mehrere Jahre mit diesem „neuen“ Orgasmus, der sich beliebig oft wiederholen ließ. Eine schöne Zeit.
Irgendwie? Da muss es doch ein Geheimwissen geben? Das Internet hält für Männer unzählige Ratgeber und Anleitungen bereit, wie sich der Orgasmus angeblich von der Ejakulation trennen lässt. Das geht tatsächlich. Aber all diese Techniken erwiesen sich – zumindest für mich – als nutzlos. Noch schlimmer: Wenn du deine männliche Sexualität bzw. den Orgasmus als Sport ansiehst, dann löst du nur die eine Erwartungshaltung durch die nächste ab.
Vielleicht gelingt es dir damit, tatsächlich einen Orgasmus ohne Ejakulation zu erreichen. Intensiver muss die Erfahrung dadurch aber noch längst nicht sein. Solange du bei deiner Sexualität im Kopf bist, wird sich nichts verändern. Das gilt für Frauen wie Männer gleichermaßen. Lust und Ekstase, die uns gar nicht mehr wirklich erreichen, sind allgegenwärtig. Wie du dein sexuelles Empfinden wieder neu entdecken kannst – und zeitlich ausdehnst – zeige ich dir in meinem Beitrag Weg vom Programm, hin zur Lust.
Heute bin ich wieder in einer neuen Phase. Den „anderen“ Orgasmus von damals erlebe ich so nicht mehr, oder nur noch selten. Lange Zeit habe ich damit gehadert. Doch langsam bahnt sich da wiederum etwas Neues an. Etwas, das ich ebenfalls noch nicht ganz greifen kann. Vielleicht hat die Veränderung damit zu tun, dass ich älter werde. Aktuell ist es meist so: Gerade wenn ich nicht den Höhepunkt zum Ziel habe, dann kommt er – vergiss den Orgasmus. Das Empfinden dabei kann sehr unterschiedlich sein. Ich kenne nicht mehr den einen Gipfel, sondern unzählige Formen davon. Bis hin zum Herz-Orgasmus.
Die sexuelle Energie
Mein bisheriges Empfinden weicht etwas, was ich eher einen orgiastischen oder ekstatischen Zustand nennen würde. Dieser Zustand kommt vor allem dann, wenn ich viel sexuelle Energie aufbaue. Etwa in einem tantrischen Seminar. Oder während ich selbst eine Tantra Massage empfange. Solche Zustände sind selten, aber sie können sehr lange andauern. Ich brauche feine Empfindungen dafür: Sie fangen ganz zart an, sind nicht so häufig und intensiv, gehen aber teils deutlich mehr in die Tiefe als früher. Für mich sind es spirituelle, fast heilige Momente absoluter Ruhe und Präsenz. Ich bin gespannt, wohin mich diese Reise noch führt.
Was will ich dir mit meiner Erzählung vermitteln? Solange du etwas hinterherjagst, das sich so und nicht anders anfühlen soll und damit darf, so lange wirst du nie etwas anderes erleben. Im Tantra spricht man davon, dass du dein „orgiastisches Potenzial“ erst entdecken musst. Anfangs konnte ich mit dieser Formulierung nicht viel anfangen, doch mittlerweile ergibt sie einen Sinn. Wobei sich das, was ich seit meiner tantrischen Reise erlebe, nicht in Worte fassen lässt.
Wie kommst du nun dahin, mehr zu spüren und tiefer zu erleben? Die schlechte Nachricht: Es gibt keinen wirklichen Fahrplan. Trainiere hier ein wenig deinen PC-Muskel oder deinen Beckenboden, mach da ein bisschen Yoga, besuche dieses und nicht jenes Seminar. Das alles kann helfen, klar. Doch wer dir die Lösung für all deine sexuellen Probleme verspricht, der ist nicht seriös. Dafür sind wir Menschen zu unterschiedlich. Genauso wie das, was wir allgemeinhin als Orgasmus bezeichnen.
Den Orgasmus erweitern
Die gute Nachricht: Du kannst es deinem Körper und deinem Geist leichter machen, dein orgiastisches Spektrum zu erweitern. Und somit zu neuen Formen deiner Sexualität gelangen. Ein paar Hinweise für den Weg dahin:
- Achtsamkeit spielt eine große Rolle, wenn du dein sexuelles Bewusstsein vertiefen und erweitern willst. Wenn du die sehr feinen Unterschiede deiner unendlich vielen Körpererempfindungen wahrnehmen kannst, dann lernst du deine Sexualität täglich neu kennen. Und nicht nur diese.
- Ein positives Körperbild ist mindestens ebenso hilfreich. Meine Reise begann nicht zufällig dann, als ich die Dämonen hinter mir ließ, dass ein Mann so und nicht so auszusehen hat. Und als sich mein Selbstbewusstsein besserte. Siehe Tantra und Körperscham.
- Ich verzichte immer mehr auf Pornographie. Und ich schalte meinen Kopf aus, wenn ich Sex habe. Bilder führen mich zu schnell in eine Richtung, die konditioniert ist. Und die damit nur wenig Überraschungen zulässt. Probier es einmal aus.
- Ich gehe meine Sexualität langsamer an. Das nennt man wohl Slow Sex. Nicht immer, manchmal mag ich es animalisch. Generell solltest du dir keine Dogmen setzen. Genieße beispielsweise als Mann deine Ejakulation, und verurteile dich nicht dafür. Ein andermal genieße dein Liebesspiel ohne Entladung. Du wirst viel über dich lernen.
- Hab(t) Sex ohne Orgasmus. Stimuliere nicht nur deine üblichen Stellen. Erkenne und ändere antrainierte Muster bei der Selbstliebe. Hör auf zu denken, dass du nur auf eine bestimmte Weise zum Orgasmus kommen kannst. Vor allem Frauen schränken sich damit ein („nur klitoral“, „nur über den G-Punkt“). Höhepunkte, die ganz ohne genitale Berührung oder gar ganz ohne Körperkontakt auskommen, sind kein Mythos.
Lerne deinen Körper in der Tantra Massage neu kennen. Für viele ist das der Einstieg, um sich einer ganz neuen Welt an Empfindungen zu öffnen. Erwarte dabei keinen Orgasmus, schon gar keinen Super-Höhenflug! Vielleicht verzichtest du bei der ersten Massage sogar darauf. Auch im Tantra und bei manchen Anbietern der Tantra Massage gibt es sie ab und an, die Jagd nach dem Höhepunkt. Wenn ich selbst eine Massage empfange, dann sage ich vorab meist, dass ich nicht ejakulieren möchte. Denn wenn ich die Kraft bei mir halte, dann passieren deutlich magischere Dinge. Aber auch das sollte kein Dogma sein.
All diese Punkte habe ich im Rahmen eines tantrischen Jahrestrainings gefestigt. Das war mein Weg, mich und meinen Körper neu zu entdecken. Und meinen festgefahrenen Pfad zu verlassen. Du musst selbst ausprobieren, was für dich am besten passt. Der wohl wichtigste Tipp: Egal was du machst, geh spielerisch dabei vor. Und hege keine bestimmten Erwartungen. Auch wenn das unserer Leistungsgesellschaft widerspricht. Wir sind es gewohnt, alles durchplanen zu können. Der „kleine Tod“ entzieht sich dieser Logik. Zum Glück.
Was sind deine Erfahrungen? Wie hast du es geschafft, deine Gewohnheiten und Muster hinter dir zu lassen? Auch die Sicht der Frauen interessiert mich dabei – sie jagen keiner Ejakulation hinterher, aber machen sicherlich ähnliche Erfahrungen. Du kannst gerne auch anonym kommentieren oder Fragen stellen, am Ende des Beitrags.
Bilder: Hide Obara, Devin Avery, Cassi Josh, Diego Hernandez