Astrid Lindgren hat das eindrucksvolle Zitat geprägt: „Sei frech und wild und wunderbar!“. Doch warum müssen wir uns überhaupt daran erinnern lassen? Warum hören wir als Erwachsene irgendwann auf, wild und damit frei zu sein? Und was können wir von unseren Kindern lernen? Eine kleine Spurensuche.
Momentan lese ich meiner sechsjährigen Tochter „Pippi Langstrumpf“ vor. Eigentlich ist es kein Buch für Kinder, sondern für Erwachsene. Die feine Anarchie, die aus Szenen wie dem Kaffeekränzchen mit den Damen aus der Nachbarschaft spricht, wird nur mir bewusst. Für meine Tochter ist es in weiten Teilen die ganz normale Beschreibung eines ganz normalen Mädchens, das Freude hat. Was Erwachsene ungehörig oder skurril finden, ist für Kinder Normalität. Wir haben es verlernt, frech und wild zu sein. Wie schade! Ich frage mich beim Lesen der Bücher von Astrid Lindgren, wann ich meine eigene wilde Seite aufgegeben habe. Und warum ich sie heute so selten lebe.
Im Rahmen eines tantrischen Jahrestrainings durfte ich meine Kindheit spielerisch noch einmal erleben:
- Toben und etwas wagen
- Vieles wie zum ersten Mal wahrnehmen
- Blind vertrauen (mit verbundenen Augen)
- Vater und Mutter spüren, und sich gleichzeitig von ihnen frei machen
- In den Kreis der anderen Kinder treten, dann wieder die Besinnung auf mich selbst
- Nacktheit als etwas ganz Natürliches und Unschuldiges wahrnehmen..
Wie wunderbar war diese Erfahrung. Und – trotz mancher Probleme und Schatten – wie wunderbar war meine eigene Kindheit! Das wurde mir schlagartig bewusst.
Es mag sich seltsam anhören: Als Erwachsener die eigene Kindheit wieder aufleben lassen? Das ist doch albern. Ja, genau das war es! Wir hatten einen Heidenspaß. Ungefähr 50 Männer und Frauen im gestandenen Alter. Die sich alle in ihrem Alltag viel zu ernst nehmen und funktionieren müssen. Zugleich war es eine Erfahrung, die mich zutiefst bewegt und transformiert hat. Die Woche hat mir das gezeigt, was viele Jahre auf Sigmund Freuds Couch nicht geschafft haben. Vor allem weiß ich nun: Ich habe viel verlernt.
Auf Augenhöhe mit meiner Tochter
Nach dem Training war ich eine Zeit lang wie ausgewechselt. Auch meine Tochter blickte mich erstaunt und ein wenig argwöhnisch an, wenn ich bei ihr sein durfte. Was macht Papa da? Ich spielte plötzlich wie ein Kind. War auf Augenhöhe mit ihr:
- Kein pädagogischer Zeigefinger, kein von oben herab
- Keine unnötige Besorgnis um sie
- Keine Logik, kein Zeitdruck, keine Disziplin
- Keine Vernunft, kein „das spielt man aber so und nicht so“
- Viel weniger Vorsicht..
Stattdessen sehr viel Unfug. Da war es endlich wieder, das Freche und das Wilde in mir. Seither verstehe ich ihr Spiel deutlich besser – nicht immer, aber immer öfter. Und wir begegnen uns anders.
Beim Schreiben dieser Sätze erinnere ich mich an einen der Momente, als ich erwachsen wurde – und die Freiheit aufhörte. Ich lag immer sehr gerne im Schoß meiner einen älteren Schwester, und sie streichelte meinen Kopf. Eines Tages wurde ich unverhofft wütend und wandte mich brüsk ab. Aus dieser Handlung schrie es förmlich: „Hör auf! Dazu bin ich jetzt zu alt!“. Ich wurde vernünftig. Wie schade. Von diesem Tag an hatte ich ein anderes Verhältnis zu meinen Geschwistern.
Gehen wir deswegen so verkrampft mit dem Thema Berührung und auch Nacktheit um? Weil wir insgeheim denken, es sei unvernünftig? Als stünde es uns irgendwann nicht mehr zu, die Freiheit zu genießen? Wir können unsere Kindheit nicht mehr zurückholen. Aber wir können uns immer wieder fragen: Wo bin ich zu wenig wild, zu wenig frech? Wo schränke ich mich selbst ein? Was kann ich tun, um die Freiheit zurückzugewinnen? Ein bisschen innere Anarchie kann nicht schaden. Ganz im Sinne von Astrid Lindgren und ihrer Pippi Langstrumpf.
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Bilder: Vanessa Bumbeers, Glen Carrie, Nicolas Picard @Unsplash